Wie die Nahrungsverfügbarkeit die Übertragung von kulturellem Wissen in wilden Orang-Utans katalysieren könnte

Ein Team aus zwei Max-Planck-Instituten und der Universität Leipzig untersuchte, wie männliche Orang-Utans von anderen lernen und stellte fest, dass Individuen, die in Lebensräumen mit reichlich Nahrung aufwuchsen, eine höhere Neigung zum sozialen Lernen hatten.

5. Februar 2024

Das Sprichwort „Not macht erfinderisch“ wird oft verwendet, um den Ursprung zu beschreiben, aus der unsere kulturelle Entwicklung entspringt. Schließlich hat die Not in Zeiten der Knappheit den Menschen dazu gezwungen, ständig neue Technologien zu erfinden, welche die bemerkenswerte kumulative Kultur unserer Spezies vorangetrieben haben. Aber eine Erfindung wird erst dann kulturell, wenn sie von vielen Menschen erlernt und verbreitet wird. Mit anderen Worten: Die Erfindung muss durch soziale Weitergabe gesellschaftlich verbreitet werden. Aber welche Kräfte treiben die soziale Übertragung voran? Eine Langzeit Studie von 18 Jahre an wilden Orang-Utans legt nahe, dass die Antwort in dem ökologischen Habitat und der entsprechenden Nahrungsverfügbarkeit eines Tieres zu finden ist. Ein Team aus zwei Max-Planck-Instituten und der Universität Leipzig untersuchte, wie männliche Orang-Utans von anderen lernen und stellte fest, dass Individuen, die in Lebensräumen mit reichlich Nahrung aufwuchsen, eine höhere Neigung zum sozialen Lernen hatten. Dieses Ergebnis zeigt, wie sich der ökologische Lebensraum eines Tieres auf seine Möglichkeiten zum sozialen Lernen und damit auf die Wahrscheinlichkeit auswirken kann, dass ein neues Verhalten zu einer Innovation mit kulturellen Eigenschaften werden kann.

„Wir haben gezeigt, dass die ökologische Ressourcenverfügbarkeit von Habitaten, Folgewirkungen auf die sozialen Lernmöglichkeiten eines Individuums hat, aber auch auf seine Neigung zum sozialen Lernen im Laufe der Evolutionszeit“, sagt Erstautorin Julia Mörchen.

Das Team der Max-Planck-Institute für evolutionäre Anthropologie (MPI-EVA) und Verhaltensbiologie (MPI-AB) und der Universität Leipzig (UL) untersuchte erwachsene männliche Orang-Utans aus Wildpopulationen auf Borneo und Sumatra. „Aufgrund ihrer Lebensweise bieten erwachsene Männchen einzigartige Einblicke in das soziale Lernen von Orang-Utans“, sagt Mörchen, Doktorandin an der Universität Leipzig.

Sobald die Männchen ihre Geschlechtsreife erreicht haben, verlassen sie die Lebensräume, in denen sie aufgewachsen sind, und verbringen den Rest ihres Lebens als Nomaden und wandern große Strecken durch den Regenwald. „Das bedeutet, dass Männchen ähnlich wie Touristen sind und daher von erfahrenen einheimischen Orang-Utans wichtige Verhaltensweisen lernen müssen, etwa welche Lebensmittel sicher zu essen sind“, sagt Mörchen. Um die notwendigen neuen Fähigkeiten zu erlernen, beobachten männliche Migranten die ortsansässigen Orang-Utans in einem Verhalten, das als „Peering“ bekannt ist.

Die Forscher untersuchten Orang-Utans in Borneo und Sumatra und sammelten Daten über Fälle, in denen männliche Migranten die Einheimische beobachteten („peerten“). In beiden Populationen stellten sie fest, dass die Männchen mehr Zeit in der Nähe Anderer verbrachten und sie häufiger ansahen, wenn es in der Umgebung reichlich Nahrung gab. Die Autoren sagen, dass dies ein Hinweis dafür ist, dass die ökologische Ressourcenverfügbarkeit eines Habitats das soziale Lernen eines Tieres modulieren kann. „In guten Zeiten verbringen Orang-Utans mehr Zeit im engen Kontakt und so gibt es mehr Möglichkeiten für soziales Lernen“, sagt Mörchen.

Das Ergebnis vertiefte sich, als das Team männliche Migranten aus Sumatra und Borneo verglich, um festzustellen, wie unterschiedlich die Peering-Raten waren. Sumatra-Orang-Utans leben in Lebensräumen mit hohem Nahrungsangebot, während die Populationen auf Borneo mit einem geringen und schwankenden Nahrungsangebot leben. Somit überraschte es nicht, dass Männchen aus Sumatra-Populationen mehr Zeit mit dem „Peeren“ verbrachten als Männchen aus Borneo.  Der Befund blieb jedoch bestehen, auch nachdem die Auswirkungen der unterschiedlichen Nahrungsverfügbarkeiten zwischen den zwei Orang-Utan Habitaten berücksichtigt wurden. „Es liegt also nicht nur daran, dass Sumatra-Männchen mehr Futter zur Verfügung haben und deshalb mehr Zeit damit verbrachten, zu peeren“, sagt Mörchen. „Wir fanden heraus, dass Sumatra-Männchen insgesamt eine höhere Neigung zum Peering haben als ihre Verwandten aus Borneo.“ Die Autoren sagen, dass die Studie allerdings nicht die Mechanismen entschlüsseln kann, wie diese Unterschiede in der Neigung zum Peering zustande kam. „Es könnte das Ergebnis entwicklungsbedingter Effekte sein, dass Borneo- und Sumatra-Orang-Utans unter unterschiedlichen ökologischen Bedingungen aufwachsen“, sagt Mörchen. „Oder es könnte das Ergebnis genetischer Unterschiede zwischen den Arten sein, die sich vor etwa 674.000 Jahren getrennt haben, oder eine Kombination aus beidem.“

Die leitende Autorin Caroline Schuppli vom MPI-AB erklärt: „Unsere Studie gibt einen Einblick, wie sich die Ökologie auf die kulturelle Weitergabe auswirken kann. Wir zeigen, dass die ökologische Nahrungsverfügbarkeit die Möglichkeiten des sozialen Lernens beeinflusst und damit die Wahrscheinlichkeit, dass neue Verhaltensweisen kulturell werden.“

Die leitende Autorin Anja Widdig vom MPI-EVA und UL fügt hinzu: „Die Entdeckung dass die ökologische Nahrungsverfügbarkeit sich auf die soziale Toleranz und das Peering der am wenigsten geselligen Menschenaffenart auswirkt, welche am weitesten mit dem Menschen verwandt sind, weist auf einen tiefen evolutionären Ursprung hin, wie sich die die Neigung zum sozialen Lernen moduliert durch entsprechende Nahrungsverfügbarkeit innerhalb der Abstammungslinie der Hominiden entwickelt hat.“

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