Die Matrix für Fische

Mit einer virtuellen Realität für Fische haben Forschende aus Konstanz die „Steuerungsregeln“ eines Fischschwarms entschlüsselt – und damit Roboterschwärme angeleitet

30. April 2025

Ein Forschungsteam aus der Biologie und Robotik entwickelte ein Virtual-Reality-System für Fische, um deren Schwarmverhalten zu entschlüsseln. Sie ermittelten die natürlichen „Steuerungsregeln“, mit denen Zebrafische ihr Verhalten mit anderen koordinieren – ein Verhaltensalgorithmus, der über Jahrtausende hinweg feingeschliffen wurde, um eine möglichst effektive Gruppenbewegung zu erreichen. Solche kollektiven Verhaltensalgorithmen sind hochinteressant für technologische Anwendungen, beispielsweise zur Steuerung autonomer Fahrzeuge. Aus diesem Grund testeten die Forschenden die „Steuerungsregeln“ des Fischschwarms anschließend mit Gruppen von Roboterautos, Drohnen und Wasserfahrzeugen. Sie fanden heraus: Die von Fischen entwickelten Interaktionsregeln sind für die Robotersteuerung äußerst effektiv und haben hohes Potenzial für die Steuerung von Roboterflotten der Zukunft. Die bei Science Robotics veröffentlichten Forschungsergebnisse entstanden unter Leitung von Forschenden des Exzellenzclusters Kollektives Verhalten an der Universität Konstanz und des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie (MPI-AB) in Zusammenarbeit mit der Eötvös-Universität in Ungarn und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA.

Fische sind Meister der koordinierten Bewegung. Fischschwärme haben keinen Anführer, dennoch schaffen es die einzelnen Tiere, in Formation zu bleiben, Zusammenstöße zu vermeiden und flexibel auf Veränderungen in ihrer Umgebung zu reagieren. Diese Kombination aus Flexibilität und Robustheit nachzuahmen ist seit jeher eine Herausforderung für vom Menschen entwickelte Systeme wie Roboter. Mit Hilfe von Virtual Reality für frei schwimmende Fische gelang einem Forschungsteam aus Konstanz nun ein wichtiger Schritt in Richtung dieses Ziels.

„Unsere Arbeit zeigt, dass Strategien, die sich über Jahrtausende hinweg in der Natur entwickelt haben, als Vorbild für robuste und effiziente Steuerungsalgorithmen in technischen Systemen dienen können“, so Erstautor Liang Li von der Universität Konstanz. Mitautor Máté Nagy von der Eötvös-Universität unterstreicht dies: „Die Entdeckung eröffnet spannende Möglichkeiten für zukünftige Anwendungen in der Robotik und für den Bau autonomer Fahrzeuge.“

Den verborgenen Algorithmus der Natur entschlüsseln

Für die Studie wurde eine virtuelle Realität (VR) eingesetzt, die das natürliche Schwarmverhalten nachahmt. Die Forschenden setzten einzelne junge Zebrafische in miteinander vernetzte Wasserbecken, in denen jeder Fisch mit "holografischen" virtuellen Artgenossen frei interagieren konnte. Jeder virtuelle Fisch war dabei die Projektion eines realen Fisches aus einem der anderen Becken; die Fische konnten also sozusagen gemeinsam in der gleichen virtuellen Welt schwimmen und miteinander interagieren. Diese vollständig immersive 3D-Umgebung gab den Forschenden die Möglichkeit, visuelle Stimuli präzise zu manipulieren und die Reaktion der Fische aufzuzeichnen. Durch dieses hohe Maß an Kontrolle konnten sie exakt herausarbeiten, welche Signale die Fische bei ihren Interaktionen mit den Artgenossen leiten. Anders ausgedrückt: Die Forscher*innen konnten das Schwarmverhalten der Zebrafische rückwärts ableiten und so nachvollziehen, wie die Fische das komplexe Problem lösen, die Bewegungen innerhalb ihres Schwarms zu koordinieren.

Die Strategie, wie die Tiere ihre Schwimmbewegungen aneinander anpassen, beruht auf einer einfachen und stabilen Regel. Sie basiert rein auf der wahrgenommenen Position der Nachbarfische und nicht etwa auf deren Geschwindigkeit.

„Wir waren überrascht, wie wenig Informationen die Fische benötigen, um ihre Bewegungen innerhalb eines Schwarmes effektiv zu koordinieren“, sagt Iain Couzin, Letztautor der Studie, Direktor des MPI-AB und Sprecher des Exzellenzclusters Kollektives Verhalten. „Sie verwenden lokale Regeln, die kognitiv minimal, aber äußerst funktional sind.“

Um zu prüfen, wie realitätsnah diese Steuerungsregeln sind, testete das Team sie mit echten Fischen. Sie führten einen Virtual Reality „Turing-Test“ durch – also ob die Fische erkennen können, ob sie mit einem echten Artgenossen oder einer künstlichen Intelligenz interagieren. In dem Turing Test unter Wasser schwamm ein echter Fisch gemeinsam mit einem virtuellen Fisch. Das Verhalten jenes virtuellen Fisches stammte mal von einem echten Fisch, mal wurde es von dem entdeckten Algorithmus gesteuert. Die Tiere konnten den Unterschied nicht erkennen. Sie verhielten sich gleich, egal ob sie mit einem realen Artgenossen oder mit dem vom Algorithmus gesteuerten virtuellen Fisch interagierten.

Vom Fisch zur technischen Anwendung

Um die breitere Anwendbarkeit der Ergebnisse zu testen, setzte das Team sie bei Schwärmen von Roboterautos, Drohnen und Booten ein. Die Roboter sollten einem beweglichen Ziel folgen, wobei die Forschenden entweder die Parameter des Zebrafisch-Algorithmus verwendeten oder eine hochmoderne, in autonomen Fahrzeugen eingesetzte Methode, die sogenannte Modellprädiktive Regelung (MPC). In allen Tests lieferte die von den Fischen entwickelte natürliche Steuerungsregel eine Leistung, die in Genauigkeit und Energieverbrauch kaum von der MPC zu unterscheiden war – und das bei einem Bruchteil an Komplexität.

Oliver Deussen, Mitautor der Studie und Professor für Informatik an der Universität Konstanz sowie Sprecher des Exzellenzclusters Kollektives Verhalten, betont: „Unser Projekt unterstreicht die wechselseitige Beziehung zwischen Robotik und Biologie: Mithilfe der Robotik können wir biologische Mechanismen erforschen, die uns wiederum zu neuen und effektiven Strategien zur Steuerung von Robotern inspirieren können.“

Li et al. (2025) <em>Science Robotics</em>

Reverse engineering the control law for schooling in zebrafish using virtual reality

Li et al. (2025) Science Robotics
https://www.youtube.com/watch?v=CgZuYNvBHkY

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