Big-Data und die Spuren wandernder Tiere
Das Movebank-System ermöglicht das Speichern und Teilen von Daten sowie die Analyse der Datenflut, die durch die Big-Data-Revolution im Bereich der Nachverfolgung von Tierbewegungen entsteht
Im September 2020 loggte sich eine Biologielehrerin in Bayern bei Animal Tracker ein – einer App, die es Menschen ermöglicht, den Standort und die Bewegungen von Wildtieren mit GPS-Trackern nachzuverfolgen – und sie erkannte, dass da etwas ganz und gar nicht stimmte.
Dr. Leppelsack und ihre Oberstufe beobachteten mithilfe der App bereits seit längerem eine Gruppe junger Weißstörche, die auf dem Gelände ihrer Schule in Pfaffenhofen geboren wurden und von einheimischen Vogelforschern mit elektronischen GPS-Sendern ausgestattet worden waren. Fast täglich meldeten sich die Schüler und Schülerinnen bei Animal Tracker an, um anhand der GPS-Daten der Störche auf einer Karte nachvollziehen zu können, wo sich ihre geliebten Schulstörche gerade befanden. Doch dann bemerkte Dr. Leppelsack ein Problem: Einer der Schulstörche hatte zwei Tage lang Signale vom Gelände eines Baumarktes in der Schweiz gesendet. Normalerweise verbringen Störche viel Zeit mit der Nahrungssuche auf Wiesen, doch die GPS-Koordinaten des Storches aus Pfaffenhofen waren alles andere als normal. „Das Bewegungsmuster des Pfaffenhofener Jungstorchs mit nur sehr kurzen Wegstrecken, die sich über zwei Tage immer um den gleichen Punkt bewegten, zeigte mir deutlich, dass er nicht mehr auf Nahrungssuche sein konnte“, schrieb Dr. Leppelsack in einem Blogbeitrag.
Sie kontaktierte daher ein Schweizer Naturzentrum, das ein Rettungsteam losschickte, um den durch die GPS-Daten markierten Ort genauer zu untersuchen. Mithilfe von Animal Tracker konnten die Rettungskräfte schließlich einen Schornstein ausfindig machen, in dem ein körperlich unversehrter Jungstorch steckengeblieben war. „Der Tier-Rettungsdienst konnte den Storch fachkundig bergen und zur Auffütterung in eine naheliegende Greifvogelstation bringen“, berichtet Dr. Leppelsack weiter. Er konnte so dank des GPS-Senders und der Anzeige der Koordinaten in Animal Tracker gerettet werden.
Die Nachverfolgung von Wildtierbewegungen bis hin zur genauen Ermittlung der Aufenthaltsorte von Tieren stellt eine Revolution in der Erforschung des Verhaltens und der Ökologie von Tieren dar, die durch die Besenderung freilebender Tiere ermöglicht wird. Inzwischen können so fast überall auf dem Planeten die Bewegungsmuster Tausender Tierarten nachvollzogen werden – oft mit erstaunlicher Genauigkeit. Zuvor blieben solche Daten für die Wissenschaft meist im Verborgenen. Die verwendeten Sender sind dabei häufig zusätzlich zu den GPS-Modulen mit weiteren Sensoren ausgestattet und senden so eine Vielzahl hochauflösender Daten an die Forschenden, die daraus Rückschlüsse auf das Verhalten oder die Gesundheit der Tiere und sogar auf die herrschenden Umweltbedingungen ziehen können.
Natürlich haben derartige Sender maßgeblich dazu beigetragen, das „goldene Zeitalter“ der Tierbeobachtung einzuläuten. Doch mindestens genauso wichtig sind die Werkzeuge, die dabei helfen, die übertragenen Daten zu sammeln und auszuwerten. Der Storch aus Pfaffenhofen wäre nie gefunden worden, wenn es nicht eine Plattform gäbe, auf der die Position des Storchs genauso komfortabel angezeigt wurde wie die der nächstgelegenen Tankstelle auf Google Maps. Da moderne Sender immer mehr und immer vielfältigere Daten übertragen können, benötigen Forschende auch immer leistungsfähigere Möglichkeiten, all diese Daten zu speichern, zu teilen und zu interpretieren. Eine Sammlung von Werkzeugen, die unter dem Namen „Movebank“ bekannt ist, erfüllt genau diesen Zweck.
Movebank ist ein digitaler Werkzeugkasten, zu dem auch die bereits genannte Animal Tracker App gehört und der Tausenden von Forschenden dazu dient, Sensordaten zu sammeln, zu verwalten, zu teilen, zu visualisieren, zu analysieren und zu archivieren. In Movebank verwalten Wissenschaftler*innen derzeit Daten von über 1.100 Tierarten von allen Kontinenten. Diese Daten bilden die Grundlage für fast 1.000 veröffentlichte Fachartikel und werden außerdem von einer wachsenden Anzahl an Regierungsbehörden und Naturschutzorganisationen genutzt.
Die von Movebank angebotenen Werkzeuge und Softwarelösungen verändern die Art und Weise, wie Wissenschaftler*innen das Verhalten und die Lebensgeschichte von Tieren erforschen. Sie werden außerdem dafür verwendet, einige fundamentale Fragen zu beantworten wie beispielsweise: Wie wirkt sich der Klimawandel auf arktische Säugetiere aus? Warum sind in den letzten fünf Jahrzehnten in ganz Nordamerika 3 Milliarden Vögel verschwunden? Und wie würde die Tierwelt ohne Menschen aussehen?
Sarah Davidson und Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie (MPI-AB) in Konstanz und Roland Kays von der North Carolina State University haben das Movebank-System gemeinsam entwickelt. Den Kern des Systems bildet die eigene Datenbank. Sie dient als zentraler Speicherort für die Daten, die durch weltweite Tierbesenderungen erfasst werden – inklusive der Daten aus dem ICARUS-System. Verwaltet wird das Repositorium durch das MPI-AB und die Universität Konstanz. Es wird derzeit von über 3.200 Datenbesitzer*innen auf der ganzen Welt genutzt, die über sechs Milliarden Tierortungs- und Sensormessungen für mehr als 6.500 Studien auswerten. Und der Bestand wächst weiter: Täglich kommen über drei Millionen neue Standorte und andere Sensordaten von Tausenden aktiven Sendern hinzu, wie in einem aktuellen methodischen Fachartikel nachzulesen ist, der gerade in Methods in Ecology and Evolution veröffentlicht wurde.
Aber Standort- und Sensordaten alleine haben nur einen begrenzten Wert. Viele Verarbeitungsschritte sind notwendig, um aus den Daten aussagekräftiges biologisches Wissen abzuleiten. Und hier kommen weitere Komponenten von Movebank ins Spiel: In einem ersten Schritt hilft die Movebank-Website dabei, die Bewegungsdaten zu visualisieren, indem sie die Bewegungsmuster der Tiere auf Karten anzeigt, die von Wissenschaftler*innen und der Öffentlichkeit gleichermaßen betrachtet werden können. Dabei ist anzumerken, dass diese Funktion bei besonders empfindlichen Daten eingeschränkt wird. Forschende, die beispielsweise mit Tieren arbeiten, die von Wilderei bedroht werden, teilen ihre Daten lediglich für bestimmte Zwecke und mit einem eingeschränkten Personenkreis – zum Beispiel mit Wildhüter*innen, die auf die gefährdeten Tiere aufpassen.
Um die Bewegungsdaten in einen größeren Zusammenhang zu setzen, können die Forschenden sie in Movebank mit zusätzlichen Anmerkungen zu Hunderten von Umweltparameter versehen. Diese basieren auf Daten von globalen Fernerkundungs- und Wetterdiensten. Und wird ein bestimmtes Werkzeug zur Datenanalyse benötigt, können Forschende den Entwicklungsbereich von Movebank – MoveApps – nutzen, um mit Programmierer*innen an der Erstellung maßgeschneiderter Anwendungen zu arbeiten. Eine dieser Apps, der „Morning Report“, visualisiert täglich die neuesten Bewegungsdaten und gibt eine Warnung aus, wenn die plötzliche Anhäufung von GPS-Koordinaten an einem Ort darauf hindeutet, dass ein Tier verstorben sein könnte.
Die Werkzeuge von Movebank gestatten so intime Einblicke in das Leben von Tieren, etwa wenn sie neues Leben gebären oder sterben. Forschende erlangen so die Möglichkeit, Arten in ihren verletzlichsten Momenten zu schützen. Beispielsweise ergab eine Langzeitstudie mit 171 Weißstörchen in Movebank, dass in Europa die meisten der Störche durch Stromschlag bei der Landung auf Überlandleitungen starben, während die meisten Todesfälle in Afrika auf Jagdereignisse zurückzuführen waren.
Je mehr Daten zu Tierbewegungen gesammelt werden, desto eher können Wissenschaftler*innen die umfangreichen und großflächigen Analysen durchführen, die erforderlich sind, um globale Phänomene zu verstehen. „Als zentrales Datenportal ermöglicht es das Movebank-System Biolog*innen auf der ganzen Welt, sich gegenseitig über ihre Arbeiten auszutauschen und durch das Teilen von Daten zusammenzuarbeiten. Auf diese Weise können sie globale Herausforderungen wie den Wandel von Klima und Landnutzung, den Verlust der biologischen Vielfalt, invasive Arten, Tierhandel und Infektionskrankheiten gemeinsam angehen“, sagt Martin Wikelksi, Letztautor des genannten methodischen Fachartikels zu Movebank und Direktor der Abteilung für Tierwanderungen am MPI-AB.
Über die wissenschaftliche Community hinaus bedient sich Movebank auch weltweit der Fähigkeiten und Scharfsinnigkeit von Amateur*innen im Bereich der Tierbeobachtungen. Bewegungsdaten aus der Movebank-Datenbank werden teilweise in die Animal Tracker App eingespeist, was jeder Person mit einem Smartphone die Möglichkeit gibt, aktiv an Forschungsprojekten teilzunehmen. Der eingangs erwähnte Weißstorch aus Pfaffenhofen ist nur ein Beispiel dafür, wie sogenannte Citizen Scientists (Englisch für „Bürgerwissenschaftler*innen“) Wildtieren auf der ganzen Welt in Echtzeit folgen und ihnen sogar helfen können.
„Etwa eine Viertelmillion Citizen Scientists aus aller Welt folgen derzeit ihren Lieblingswildtieren per App“, berichtet Wikelski. „Indem wir die Tiere näher an uns Menschen ‚heranbringen‘, können wir ihre täglichen Wanderungen, Abenteuer und Schicksale miterleben. Und wir sind bereit, ihnen bei Bedarf zu helfen und sie zu unterstützen.“
Wie ein gesundes Ökosystem wächst und verändert sich das Movebank-System fortlaufend. Der nächste große Schritt wird laut Wikelski die Sicherung einer nachhaltigen Zukunft für Movebank sein. Diese Zukunft, so die Autor*innen des Movebank-Artikels, wird durch eine ordnungsgemäße Kuration und Speicherung der Milliarden von Datenpunkten erreicht werden. Den Autoren schwebt eine Art digitales Naturkundemuseum vor, in dem die Daten aufbewahrt und ausgestellt werden können, zusammen mit den Lebensgeschichten der Tiere, die durch Fotos, Feldnotizen und die Beobachtungen von Citizen Scientists zusätzlich in lebhaften Einzelheiten dokumentiert werden. Auf diese Weise wäre sichergestellt, dass die Big-Data-Revolution im Bereich der Tierbeobachtung ihrem Anspruch gerecht wird: Informationen für ein besseres Wildtiermanagement zu liefern, Naturschutzmaßnahmen anzuregen und naturhistorische Geschichten über das Leben auf unserem Planeten zu erzählen.
„Stellen Sie sich vor, wir hätten heute Daten darüber, wie sich die riesigen Galapagos-Schildkröten bewegten und wie sie lebten, als Charles Darwin die Galapagos-Inseln besuchte. Oder darüber, wie die Bisons die Prärien durchstreiften, als Luis und Clark sich auf ihre berühmte Expedition durch die USA begaben. Stellen Sie sich vor, was das für unser Verständnis vom Leben auf der Erde bedeuten würde“, sagt Wikelski.