Junge weibliche Orang-Utans richten ihre Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf ihre Mutter, um von ihr zu lernen. Männliche Jungtiere hingegen schauen oft von gebietsfremden Artgenossen ab, um sich ein möglichst breites Wissen anzueignen.

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Neben Schimpansen und Gorillas zählen die Orang-Utans zu den nächsten Verwandten von uns Menschen. Im Vergleich zum Rest der Familie der Hominidae erscheinen die Orang-Utans deutlich weniger gesellig. Frühere Studien zeigten allerdings, dass Jungtiere ihr Wissen und ihre Fertigkeiten hauptsächlich von ihren Müttern sowie von anderen Tieren übernehmen. Soziales Lernen findet bei diesen Menschenaffen durch anhaltendes Beobachten von Artgenossen aus nächster Nähe statt, dem sogenannten Peering.

Ein internationales Team unter Leitung der Universität Zürich (UZH) hat das Peeringverhalten von Orang-Utan-Jungtieren an zwei Forschungsstationen in Sumatra und Borneo über einen langen Zeitraum hinweg untersucht. In rund 13 Jahren wurden über 3.100 einzelne Peering-Situationen mit insgesamt 50 Jungtieren beobachtet.

Unterschiedliche Role Models...

Die Resultate der nun im Fachjournal "Plos Biology" erschienenen Studie zeigen, dass sich weibliche und männliche Jungtiere signifikant in der Wahl ihrer Rollenmodelle unterscheiden: Junge männliche Orang-Utans orientieren sich mit zunehmendem Alter in ihrer Entwicklung nicht mehr an ihrer Mutter, sondern an eingewanderten adulten Männchen oder an eingewanderten Jugendlichen beider Geschlechter.

Weibliche Jungtiere hingegen zeigen ein durchgehend hohes Interesse am Verhalten ihrer Mutter, also an einem maternalen Rollenmodell. Ist dieses nicht verfügbar, dienen auch lokal ansässige ausgewachsene Weibchen und jugendliche Tieren beiderlei Geschlechts als Vorbilder.

... für verschiedene Lebensweisen

Interessanterweise entwickeln sich diese Unterschiede in einer Entwicklungsphase, in dem die Jungtiere noch durchgehend mit ihren Müttern unterwegs sind. Die Mütter ihrerseits unterscheiden sich nicht in ihren Assoziationsmustern, wodurch sie den weiblichen und den männlichen Jungtieren dieselben Lernmöglichkeiten bieten. "Die beiden Geschlechter nutzen die gebotenen Möglichkeiten einfach anders", erklärt Letztautorin Caroline Schuppli von der Universität Zürich und vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie.

"Die unterschiedlichen Rollenmodelle spiegeln sich auch im sozial erlernten Wissen der Jungtiere ab: Weibchen entwickeln ein ähnliches Nahrungsmuster wie ihre Mütter, Männchen dagegen eignen sich vergleichswiese mehr Wissen außerhalb der Repertoires der Mutter an."

Breites Wissen für die Auswanderung

Diese Unterschiede sind sowohl auf das Erlernen von ökologisch relevantem Wissen wie auch auf geschlechtsspezifisches Verhalten zurückzuführen. Beim Eintritt der Geschlechtsreife verlassen Orang-Utan-Männchen ihren Geburtsort, um mehrere Jahrzehnte lang durch verschiedene Gebiete zu ziehen. Da sich diese Regionen in ihrer ökologischen Nahrungsvielfalt unterscheiden, ist es für männliche Jungtiere von Vorteil, sich ein möglichst breites Wissensrepertoire anzueignen.

Weibliche Jungtiere hingegen bleiben ihrem Geburtsort treu. Für sie zahlen sich möglichst tiefe Kenntnisse des lokalen Gebietes aus. "Zudem vermuten wir, dass sich männliche Jungtiere von adulten Männchen geschlechtsspezifisches ökologisches Verhalten abschauen. Erwachsene Männchen sind nicht nur deutlich größer als Orang-Utan-Weibchen, sie unterscheiden sich auch in diversen Aspekten ihres Futtersuch- und Fressverhaltens", so Schuppli.

Parallelen zum Menschen

Die Studienresultate unterstreichen die Bedeutung des sozialen Lernens für die Entwicklung der Jungtiere. Dass soziales Lernen bei den semi-solitären Orang-Utans eine zentrale Rolle in der Entwicklung einnimmt, deutet darauf hin, dass dies auch bei anderen Menschenaffen von zentraler Bedeutung ist. Daraus lässt sich schließen, dass sich die menschliche Fähigkeit des sozialen Lernens kontinuierlich in der Evolution entwickelt hat. Die Ergebnisse dieser Studie dürften überdies für neue Artenschutzstrategien relevant sein, insbesondere bei der Wiederauswilderung von Hand aufgezogener verwaister Orang-Utans. (red, 21.5.2021)